Dabei bedarf es der Vorsicht, denn dieser Einklang mit der Natur ist keine Lebensversicherung. Abgründe und Gefahren zeigen sich Schritt für Schritt. Aber es ist eine große Möglichkeit, die uns Klinkan bietet, aus den Bedrängungen und Ängsten unserer städtischen Einsamkeiten heraus, dem wahren Leben zu begegnen – und es zumindest in der Phantasie zu führen. Und so treffen wir in Klinkans Bilderwelt, die von Indianern und Trappern, griechischen Göttern und deren Mythologien ebenso erfüllt ist, wie von alchimistischen Geheimlehren und der niederländischen Ikonographie des 15. und 16. Jahrhunderts, auf Tiere und Menschen aller Größen. In dieser Bildwelt mit Humor und Lebensfreude erfüllt, begegnen wir auch einer Bärenfrau. Fast bildfüllend steht sie mit ihrer schlanken Mädchengestalt vor uns, mit ihrer von Sonne und Wetter tief gebräunten Haut. Großäugig und mit geöffnetem Mund blickt sie aus dem Bild, diese junge Blondine, aber sie sieht an uns vorbei. Sie erkennt etwas mit Staunen, aber ohne Furcht, was sie dazu bringt, ihre Hände wie in einem antiken Anbetungsgestus zu erheben. Sinnlich und keusch zugleich steht sie vor uns, bekleidet mit einem langarmigen Pullover, der nach unten wie eine Badehose abschließt, in wohltönenden Mimikry-Farben gehalten. Diese kindliche Nymphe ist die Bärenfrau. Sie steht vor dem großen, roten Bären mit seinen langen Krallen, der uns die Zähne zeigt, ohne uns anzusehen, und wir wissen nicht, ob es vielleicht doch ein Lächeln ist. Gefährlich scheint uns die Begegnung mit ihm, aber sie ist in Frieden, ja in Liebe möglich, wie das Märchen beweist. Eine große Ratte liegt hinter der Gruppe, und rechts kommt ein violetter Bär über eine Brücke, der sich gar nicht über die Anwesenheit der Bärenfrau zu wundern scheint. Es ist alles ganz natürlich und noch dazu in den schönsten Farben, in warmem Braun und leuchtendem Rot, in Grün, Blau und Violett. Dunkel wölben sich die bewaldeten Berge. In blau-gelben Schattierungen entwickelt sich der Himmel.
Klinkan lässt uns einen Blick in diese Welt tun, deren Bewohner uns nicht zu bemerken scheinen. Er zeigt uns an ihrem Treiben die Möglichkeit eines schönfärbigen Glücks. Dürfen wir ihm trauen?
Alle Formen im Bild erhalten eine abstrakte Physiognomie. Der Bär auf der Brücke trägt ein Horn auf der Nase und erhält zusätzlich den Charakter des Einhorns. Der Wald über ihm bekommt Augen, die weiß-gelbe Wolke die Gestalt eines Adlers. Tierförmig ist die Wolke links oben und mit einem Auge ausgebildet. Merkwürdig, flächig ist der große, rote Bär. Das Mädchen und der Bär sind eine merkwürdige Einheit, die Haltung ihrer Arme ergibt ein X-Zeichen. Es ist für Klinkan das Symbol des Verbindenden ebenso wie es die Brücke rechts ist. Verbunden sollen die beiden unterschiedlichen Seiten werden, so wie wir versuchen sollten auf die andere Seite zu kommen. Die andere Seite als Zustand und damit die Verbindung mit ihr vollzieht sich oft schon bei uns. Kommt der violette Bär von der anderen Seite oder geht er in unsere andere Seite? Das ist eine Frage, die jeder von uns sich selbst beantworten muss. Denn wie soll Klinkan wissen, wo der Betrachter steht.
Wilfried Skreiner: Die Bärenfrau (1983)